Als Pressefotograf habe ich von dem Abend „Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen“ mit Wladimir Kaminer in der Christuskirche Bochum einige Fotografien erstellt.
Der russisch-deutsche Schriftsteller Wladimir Kaminer ist vor allem für seine humorvollen Erzählungen über das Leben in Deutschland bekannt. Er wurde 1967 in Moskau geboren und zog 1990 nach Deutschland. Kaminer schreibt auf Deutsch und erlangte große Bekanntheit mit seinem Buch Russendisko (2000), das in humorvollen Anekdoten das Leben russischer Einwanderer in Berlin schildert. Neben seinen Büchern ist er auch als Kolumnist, Moderator und Veranstalter von Lesungen und Partys aktiv.
Als Wladimir Kaminer nach Deutschland kam, war das Land noch geteilt. In Ostberlin, der Hauptstadt der DDR, brachte er mit seiner „Russendisko“ das Kaffee Burger zum Beben – ein etablierter Treffpunkt der Kulturszene. Er vermischte, was aufeinanderprallte: Schwermut und Techno, Tiefsinn und Blödelei, Glasnost und Retromania. Sein Stil prägte die Wendejahre, und Kaminer wurde ihr Chronist. Wer sich auf seine Interpretation einließ, für den schien alles möglich. Noch nie war Optimismus im Westen so trocken, so treuherzig, so unmittelbar wie in Kaminers Witz während der Wendezeit.
Doch diese Zeit ist unwiederbringlich vorbei. Seit dem 24. Februar 2022 – dem Tag, an dem auch im Westen unmissverständlich klar wurde, dass Putins Russland die Ukraine nicht erst seit Kurzem, sondern bereits seit einem Jahrzehnt angreift. „Ich schäme mich“, sagt Kaminer. „Seit über 30 Jahren habe ich hier überall erzählt, wie großartig und kreativ Russland sei, welch wunderbare, europäisch denkende Menschen dort leben – und dann das … diese kannibalischen, patriotischen Orgien …“
Kaminer reagiert: Aus der „Russendisko“ wird die „Ukrainedisko“. Er unterstützt oppositionelle Journalisten, in der Hoffnung, dass sie aus dem Exil heraus eine kritische Öffentlichkeit in Russland erreichen. Er sieht eine Gesellschaft, die sich vor sich selbst blamiert, die sich seit 25 Jahren von demselben Mann regieren lässt – eine Gesellschaft, die passiv auf dem Sofa sitzt und fernsieht. Genauso wie Putin, den Kaminer als „Garagenrentner“ bezeichnet – ein Ausdruck für ehemalige Kader der Staatssicherheit, die zwar noch fit, aber nicht mehr berufstätig sind. Männer, die mit einem Bier hinter der Garage sitzen und über die Weltordnung sinnieren.
In diesem Kontext liest sich Kaminers neues Buch als Rückbesinnung auf das, was Europa ausmacht: die Neugier auf andere, die Freude an Begegnungen mit Menschen, die einem noch fremd sind.
Kaum jemand ist so wissbegierig auf seine Nachbarn wie Wladimir Kaminer – sei es auf Einzelpersonen oder ganze Länder. Und was könnte besser verbinden als gemeinsames Essen? Wer zu Gast an fremden Tischen Platz nimmt, lernt nicht nur die Esskultur und Geschmäcker anderer kennen, sondern erfährt auch von ihren Träumen, Sorgen und Hoffnungen. Auf seinen Reisen durch Europa kostet Kaminer von den Tellern Portugals, probiert bulgarischen Honig, trinkt den Wein der Republik Moldau und taucht den Löffel in serbische Töpfe.
Vor allem aber sucht er das Gespräch mit den Menschen und taucht tief in ihre Geschichten ein. Seine Reisen offenbaren ein Europa, das so vielfältig ist wie seine Speisen: überraschend, facettenreich – und voller Geschmack, der verbindet.